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Normalmoral

Gewissen und Moral – was ist wo und wann normal?
Heute zeichne ich ein Bild von aktueller Normalmoral.

Normal ist nicht zwangsläufig gut, aber
[1] ohne Steigerung: vorhandenen (gesellschaftlichen, wissenschaftlichen, medizinischen, subjektiv erfahrenen) Normen entsprechend
[2] über längere Zeiträume ähnlich ablaufenden Ereignissen entsprechend; normalerweise
[3] ohne Steigerung, Mathematik: im rechten Winkel/orthogonal

Moral, Doppelmoral, Tripelmoral oder Multimoral bezeichnet meist faktische Handlungsmuster, -konventionen, -regeln oder -prinzipien bestimmter Individuen, Gruppen oder Kulturen zu bestimmten Zeiten.

Aus Wikipedia von Beckwia
Aus Wikipedia von Beckwia

Unsere Normalmoral hier und heute ist mir noch unverständlicher als intrinsische Singularitäten.
Egal auf welches Thema ich mich beziehe, es passt alles hinten und vorne nicht zusammen.
Ich habe gerade in einer TV-Sendung gesehen wie in Auffangs- und Pflegestationen Papageien versorgt werden. Es war schon rührend und ergreifend, aber verstehen kann ich es trotzdem nicht. Die wild lebenden Papageien sind teilweise vom Aussterben bedroht (naja, wer ist das heute nicht, auch mir ist schon ganz schlecht) und dafür werden die Gezüchteten immer mehr. Leider werden die oft von verantwortungslosen Menschen nicht artgerecht gehalten und so kommen sie in die überforderten Stationen.
Ich frage mich, wieso männliche Kücken einfach lebend geschreddert werden, weil sie keine Eier legen und überhaupt wie das Huhn dazu kommt, einfach von uns gezüchtet, gequält und dann verspeist zu werden, wohingegen der Papagei aufwendig gesund gepflegt wird und er ein schönes Leben haben soll. Wo ist der so gravierende Unterschied zwischen einem gezüchteten Huhn, Fasan, Auerhahn, Pute, Ente, Strauß und einem Papagei?
Haben Sie schon einmal ein kleines Kücken in der Hand gehabt? Also für mich sind die entzückender und süßer, als die jungen Papageien, die ich im TV sah. Und wer weiß, vielleicht schmecken die Papageien dafür besser als ein Huhn. Natürlich sollte es kein Argument sein, dass ich den mir süß vorkommenden Tieren ein lebenswertes Leben zugestehe und den anderen nicht, aber ich befürchte etwas anderes versteht ihr nicht. Wie kann sich der Mensch so aufspielen und mit großem Selbstverständnis derartig sinnentfremdete Entscheidungen treffen? Das wir Nahrung benötigen ist klar, aber wir brauchen keine Fleischfabriken, egal, ob darin Kühe, Puten, Hühner, Hunde, Katzen oder Papageien erzeugt werden sollen! Das ist eine perverse Normalmoral, wenn wir Leben so behandeln und dafür die Toten, die sowieso von den Würmern gefressen und von Bakterien zersetzt werden, begraben, als wären wir noch im alten Ägypten vor 4.000 Jahren.
Was ist der so gravierende Unterschied zwischen Schlachtrind, Schaf, einer süßen Ziege im Steichelzoo, Schwein, Hund und Katze? Alle werden gezüchtet, aber die einen werden gequält, geschlachtet und gegessen und die anderen werden verhätschelt wie ein Kind. Viele Menschen würden sich wie im Paradies vorkommen, ginge es ihnen so, wie diesen Tieren, die eben zum Kuscheln oder Spielen gezüchtet werden und nicht zum Essen.
Kühe sind in Indien heilig, Hunde, Katzen und Affen sollen den Chinesen gut schmecken und ich bin schon darauf gespannt, wann erstmals eine Hilfseinrichtung für nicht artengerecht gehaltene Moskitos eingerichtet wird.
Aber wie gesagt, es geht mir mit sehr vielen Themen so und mir scheint, dass wir dringend neue Werte brauchen, denn die Normalmoral ist katastrophal.
Sehen Sie sich einen alten Film an und stellen sie fest, dass es normal ist, wenn der Star oder Moderator eine Zigarette im Mund hat. Heute würde er nicht nur entlassen und bestraft, sondern wahrscheinlich sogar gelyncht.
Ich rauche seit 42 Jahren täglich etwa 60 Zigaretten und lebe immer noch. Gut, die € 183.960.-, die ich mit aktuellen Preisen gerechnet, für das umstrittene Vergnügen ausgeben habe, hätte ich zweifellos sinnvoller anlegen können (für Kinder in Not zum Beispiel). Aber ich habe wenigstens noch keinen Raucher gesehen, der von einer Zigarette so benebelt gewesen wäre, dass er andere umgebracht hätte, wie es bei Alkohol oft der Fall ist. Nicht nur mit dem Auto, sondern auch mit anderen nicht lenkbaren Mordwaffen. Alkohol darf problemlos überall genossen werden, denn es gibt keinen Passivtrinker, sonder der Geschädigte wird hier nicht vom Alkohol belästigt, sondern vom Alkoholisierten getötet. Ist doch viel besser, als eine Brise kalten Rauch in die Nase zu bekommen, oder? Als Kind in Auspuffhöhe eine stark befahrene Straße zu überqueren muss ebenfalls viel gesünder sein, denn Autos mit Verbrennungsmotoren werden nicht verboten. Dafür darf man werben und die sind so gut und toll, dass man sie heute sogar noch in der Formel 1 bewundern darf. Ja, das ist tatsächlich war und hier und heute normal. Ich könnte tagelang so weiter schreiben und sehe immer und immer wieder, dass wir dringend umdenken müssen, denn das passt doch alles hinten und vorne nicht zusammen. Die aktuelle „normale“ Moral ist doch abnormal, oder nicht?

By the way, ..
Ich habe gerade gelesen, dass sich manche fragen, ob Selbstmord strafbar wäre.
Neben so halblustigen Bemerkungen, wie „auf Seltsttötung steht die Todesstrafe“, fand ich auch einen interessanten Kommentar auf gutefrage.net

Nach herrschender Meinung nicht, da § 212 StGB einen anderen Menschen meint als sich selbst. Aufgrund des absoluten Schutzes des Lebens (keine Disponibilität über dieses Rechtsgut) wird auch vereinzelt das Gegenteil vertreten. Mit dem Wortlaut des Gesetzes wäre es wohl vereinbar.
Nach herrschender Meinung ist der Suizidversuch ist in Deutschland als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts straffrei. Beim vollendeten Suizid erübrigt sich die Diskussion ja sowieso.

Also schaue ich im Strafgesetzbuch nach

Strafgesetzbuch
Besonderer Teil (§§ 80 – 358)
16. Abschnitt – Straftaten gegen das Leben (§§ 211 – 222)
§ 212
Totschlag

(1) Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.

(2) In besonders schweren Fällen ist auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen.

und finde, dass ich auch ein Mensch bin, selbst wenn ich mich töte und daher müssten sie mich eigentlich von Rechts wegen mindestens 5 Jahre im Gefängnis aufbewahren, bevor sie mich verbrennen oder begraben dürfen. Nein, das wird natürlich auch nicht erlaubt sein, aber eine elektronische Fußfessel im Sarg wäre eine denkbare Lösung. Wobei der Gesetzestext dazu natürlich auch geändert werden müsste. Und wenn man sich dazu entschließen sollte, dann wäre das Problem durch das Einfügen des Wörtchens „anderen“ leicht zu lösen:
„Wer einen anderen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, …“
Naja, vielleicht novelliert unsere Legislative das Gesetz demnächst, falls ich einen Stammleser aus diesen Kreisen habe. 😉

Zu diesem Thema fand ich auch einen überaus interessanten Artikel im Spiegel aus dem Jahre 1963, Krankheit zum Tode, aus dem ich hier zitiere:

Den Taumel des Todes tranken außer Werther Tausende seiner Zeitgenossen. Das Werther-Fieber erfaßte alle Schichten der Gesellschaft. Man schwärmte, litt und starb wie der Held Goethes und wurde sich der Krankhaftigkeit des epidemischen Leidens nicht bewußt.

Die gleichzeitig lebenden Wegbereiter des deutschen Idealismus indes teilten weder den Selbstmord-Enthusiasmus der westeuropäischen Philosophen noch die Gefühlsseligkeit der poetisch aufgewühlten Werther-Kranken.

So entgegnete Freund Schiller dem Verfasser des „Werther“ mit sittlichem Pathos in seinem Drama „Kabale und Liebe“: „Selbstmord ist die abscheulichste (Sünde), mein Kind, die einzige, die man nicht mehr bereuen kann, weil Tod und Missetat zusammenfallen.“

Und in Königsberg schüttelte Immanuel Kant das Philosophenhaupt über den Rausch von Empfindsamkeit. Sein – untaugliches – Gegenmittel: Die „Selbstentleibung“ ist Sünde gegen die Souveränität Gottes wie gegen die Gemeinschaft.

Der abermalige Umschlag bewies nur, daß die abendländischen Selbstmord-Erkenntnisse wieder den Stand der Kirchenväterzeit erreicht hatten – allerdings waren inzwischen Millionen Lebensmüder, von den Apologeten des Freitods angeleitet oder durch den ethischen Rigorismus ihrer Gegner verwirrt, von eigener Hand gestorben.

Tatsächlich hielt sich vorerst auch im weltlichen Strafrecht noch das einmal rezipierte Unwert-Urteil der christlichen Lehre vom Selbstmord:

– Das österreichische Strafgesetzbuch des ansonsten aufgeklärten Kaisers Joseph II. („Josephina“) stellte 1787 den Selbstmord unter Strafe; bis 1850 war der Suizid in Österreich als Polizeiübertretung strafbar.

– Das preußische „Allgemeine Landrecht“ von 1794, die berühmteste Kodifikation der deutschen Aufklärung, bestrafte noch jene Selbstmörder, die sich durch ihre Tat einer Strafe entziehen wollten.

1850 war Selbstmord in Österreich also tatsächlich strafbar. War da der zweite Pepi etwa dem Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen auf den Leim gegangen?

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