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Wu Bu – Die fünf Bewegungsrichtungen im Taijiquan

Jeder der nicht Taijiquan übt, wird mir bestätigen können, dass er sich von der Mitte nach vor, hinten, rechts und links bewegen kann. Manche können sich sogar noch kleiner machen und in die Hocke gehen, oder sich lang machen, oder gar springen, aber fliegen kann keiner. Vereinfacht gesagt, sind die 4 Bewegungsrichtungen aber schon alle möglichen Bewegungsrichtungen, aus denen man alle anderen Richtungen zusammensetzen kann, wie bei Vektoren. Auch in Taijiquan gibt es „nur“ die Mitte und die erwähnten 4 Richtungen. Die Besonderheit der 5 Bewegungsrichtungen im Taijiquan liegt also darin, wie man diese Richtungen für Bewegungen nutzen kann, sodass die Taijiquan-Prinzipien gewahrt bleiben, oder überhaupt erst erfüllt werden.
1.) Im Zentrum bleiben
Es scheint nun zu einfach, wenn man die körperliche und geistige Mitte findet und sie immer und überall hin mit nimmt, also nie verlässt, denn dann gibt es natürlich keine von außen sichtbare Bewegung, aber genau um das geht es. Man muss die Mitte verlassen, ohne sie zu verlassen. Wie geht das? Ich setze zum Beispiel einen Fuß eine Schrittlänge nach vor und verlagere das Körpergewicht ganz auf das hintere Bein, obwohl der vordere Fuß auch den Boden berührt (in Taijiquan oft nur mit der Ferse oder den Zehen, aber hier spielt das keine Rolle). Ziehen wir einen Kreidekreis mit einer Armlänge im Radius um mich (mein Zentrum, meine Mitte, mein Dantian) herum auf den Fußboden. Senkrecht von meinem Zentrum nach unten tragen wir nun meine Mitte in den Kreis ein und schon wird es klar, wie ich die Mitte verlassen kann, ohne dabei die Mitte, das Gleichgewicht oder mein Zentrum zu verlieren.
2.) Maximalen Bewegungsradius nutzen
Innerhalb des oben gezogenen Kreidekreises kann man nun den Punkt (mein Zentrum) herum bewegen und an jeden Punkt bringen, ohne das ich meine Mitte verliere, solange ich nicht zu nahe an den Rand gebracht (über meine physikalischen Möglichkeiten hinaus) werde. Einmal stehe ich dabei am linken, einmal am rechten Bein, einmal drehe ich mich nach links, dann gewichte ich etwas rechts usw.
3.) Sich aus der Mitte heraus bewegen (Spiralkraft)
Wird der Kreidepunkt oben innerhalb meines mir möglichen Bewegungsradius verschoben und damit gleichzeitig meine Mitte, wird es vermutlich ein Ruckeln, Wackeln eine Verzögerung, Reaktionszeit geben, wenn ich nicht gut Taijiquan kann. Dies fällt weg, wenn die Bewegung der Mitte von der Mitte selbst ausgeht und alle Körperteile mit der Mitte verbunden sind. Dies erklärt, weshalb im Taijiquan alle Bewegungen vom Zentrum ausgehen.
4.) Spiralkraft (eine Chen Stil Eigenheit)
Nun zeichnen wir uns auf unseren Kreidekreis die Himmelsrichtungen ein und nehmen an der Kreidepunkt, also mein Zentrum wäre genau in der Mitte und ich möchte ihn Richtung Osten (nach rechts, Richtung 3 Uhr) verschieben. Ich drehe mich (mein Zentrum um die eigene Achse) und richte damit meine Vorderfront nach Nordosten ein. Nun erfolgt eine kleine Bewegung nach vor (Richtung Rand), dann eine Bewegung nach rechts (Richtung Osten) und ich wiederhole diese kleinen Bewegungen solange, bis das Ziel erreicht ist. Es entsteht eine wellenförmige Linie, die dreidimensional betrachtet spiralenartig verläuft. Je höher die Frequenz der Welle und je geringer die Amplituden, um so schwieriger wird es von außen zu einem bestimmten Zeitpunkt festzustellen sein, wo sich mein Zentrum gerade befindet. Das heißt, du erkennst mich nicht. Ich erkenne dich, aber du mich nicht, oder so ähnlich sagte dazu angeblich ein Taijiquan Meister.
4) steigen – sinken, nach rechts drehen – nach links drehen, ausdehnen – zusammenziehen, öffnen – schließen, Yin und Yang sind Teil jeder Bewegung und dazu gäbe es verschiedene Beispiele, die zur Demonstration geeignet wären, aber ich stelle mir statt es Kreidekreises einfach einen mit Luft oder Wasser gefüllten Luftballon vor und projeziere mein Zentrum hinein, damit ich an dieser Stelle nicht alle 8 Grundtechniken (Ba Fa) benötige, um die 5 Bewegungsrichtungen beschreiben zu können. Denn die Grundtechniken sind natürlich ebenfalls mit Bewegungen und Richtungen verbunden.

Eine Bewegung benötigt neben der Richtung auch einen Impuls, Energie (8 oder 13 Energien), Kraft (4 Grundkräfte) und eine Motivation (Aktion, Reaktion, Folgen, Kleben, Explosion, …), doch dazu komme ich nächstes mal.

Verschiebe ich mein Zentrum innerhalb meines möglichen Bewegungsradius ergeben sich dadurch bestimmte bevorzugte Stellungen, denen dann auch in Taijiquan und in jeder andern Kampfkunst bestimmte Bezeichnungen zugeordnet werden. So finden wir in Taijiquan zum Beispiel folgendes Grundgerüst:
1. Mitte, zhong ding, Erde, Ma Bu, zentrierter , verwurzelter Stand, gesenktes Qi zum Dantian, ruhiger Geist, in bestmöglicher Struktur; auch auf einem Bein (ein Bein angehoben, oder mit der Ferse oder den Zehen den Boden berührend, aber ohne jedes Gewicht; z.B. Im sog. Leerstand (Katzenstand, Xu Bu), Cha Bu „Kreuzstand“ oder Xie Bu und Ti Bu „Beinschlagstellung“, [Jin Ji] Du Li Bu im goldenen Hahn, …)
2. Vorne, vordringen, Qian jin, Metall, Bogenstand (gong bu)
3. Hinten, zurückweichen, Holz, Pu Bu, flacher Stand,
4. Links (links blicken), Zou gu, Wasser,
5. Rechts (rechts blicken), You pan, Feuer

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Generationen der Chen Familie und des Chen Stil Taijiquan

Wenn ich Chen Stil Taijiquan erlernen will, ergibt sich daraus für mich zwangsläufig, dass ich mich auch mit der Herkunft beschäftige. Dabei finde ich es immer wieder verwirrend, dass Chen Wangting (1597; † 1664) als Begründer des Chen Stils angegeben wird und dieser gleichzeitig der 9. Generation entstammt. Genealogisch ist das zwar bestimmt richtig, wenn über den Vater von Chen Bo (Gründer von Chenjiagou) keine Aufzeichnungen vorhanden sind, aber in Hinblick auf Taijiquan ist das für mich recht verwirrend.
Beispiel: Ich eröffne heute ein Kunsthandwerk. Wenn es mein Sohn weiter führt, weil es erfolgreich war, sollte er sich auf seinem Aushängeschild trotzdem „Kunsthandwerk Hirner seit 2 Generationen erfolgreich“ oder ähnliches darauf schreiben und nicht „Kunsthandwerk Hirner seit 10 Generationen erfolgreich“, nur weil ich meinen Urgroßvater und meine Vorfahren kenne.
Großmeister Chen Xiaowang, 19. Generation der Gründerfamilie des Taijiquan, mag zwar richtig sein, aber sein Taijiquan hat „erst“ eine 10 Generationen lange Tradition, wenn Chen Wangting der Begründer des Chen Stils war. Da sich der Titel Großmeister aber auf Taijiquan bezieht und aus dem Kontext heraus (es geht immer um Taijiquan und nicht etwa um Kochrezepte für Vanillekipferl, die innerhalb der Familie weiter gegeben wurden), wäre für mich 10. statt 19. Generation verständlicher. Es spielt natürlich keine große Rolle, es sei denn, man sucht nach Taijiquan-Quellen der ersten 8 Generationen.

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Chen Taijiquan, Alter Rahmen von Master Chen Guizhen


und

Welche Eigenschaftswörter fallen mir da spontan dazu ein:
„ausgezeichnet, einzigartig, herrlich, unübertroffen, vollendet, vollkommen, ideal, numinos, omnipotent, perfekt, unerreicht, vortrefflich, graziös, grazil, anmutig, zart, ausgewogen, abgewogen, zusammenstimmend, zusammenpassend, gleichmäßig, im richtigen Verhältnis, den Harmoniegesetzen entsprechend, Wohlklänge enthaltend, wohlklingend, gut zusammenpassend, ein ausgewogenes Ganzes bildend, harmonisch, exzellent, hochwertig, kostbar, nobel, süperb, vorzüglich, edel, fabelhaft, fein, großartig, prächtig, zauberhaft, ausgezeichnet, außergewöhnlich, eindrucksvoll, grandios, ideal, wunderbar, anziehend, betörend, entzückend, reizend, wunderbar, märchenhaft, angenehm, anmutig, attraktiv, reizend, scharmant, einnehmend, gewinnend, hübsch, zauberhaft, außergewöhnlich, beeindruckend, bewundernswert, brillant, eindrucksvoll, einzigartig, enorm, erstaunlich, fabelhaft, formidabel, hervorragend, imposant, ja, nahezu göttlich, … “ 😉 wie auch die andern Formen hier. Ach ja, „schön“ habe ich vergessen und jetzt denke ich lieber nicht mehr nach, sonst folgt gleich noch ein enthusiastischer Absatz mit lobenden und preisenden Adjektiva ein. Jedenfalls gefällt es mir so gut, dass ich es nach tausenden Ansichten der Videos „Alter Rahmen von Großmeister Chen Xiaowang“ als willkommene Abwechslung wirklich schätze. Vergleichen will ich nicht, denn Chen Xiaowang ist als mein Vorbild von jedem Vergleich ausgeschlossen und von allen anderen Großmeister will ich in erster Linie lernen. Da vergleiche ich zwar, aber sicher nur im geheimen Gedanken, denn zu sagen habe ich dazu sicher nichts. Bei Chen Guizhen hingegen kann ich einfach zusehen und genießen, ohne sofort zu bemerken, dass ich keine Ahnung habe und aus jedem Detail lernen will. Keine Ahnung, aber vielleicht geht es männlichen Skifahrern ähnlich, wenn sie sich einen Damenbewerb ansehen, aber bei mir fällt auf jeden Fall der unwillkürliche Lernzwang weg. Das soll aber sicher nicht bedeuten, dass ich Chen Guizhen nicht sehr als Lehrerin schätzen würde, sondern eher, dass sie etwas hat, was ich nie lernen kann, weil ich keine Frau bin. Diese runde Weichheit und weibliche Eleganz ist für mich sogar theoretisch unmöglich zu erlernen, die Fähigkeiten von Chen Xiaowang dagegen, kann ich nur praktisch nie erreichen. Fähigkeit hin Vollkommenheit her, die Videos bereichern mich jedenfalls ungemein und ich werde die Form schon morgen viel weicher, runder und gelassener ausführen.
Lediglich die Qualität der Videos lässt zu wünschen übrig und wenn ich schon beim Wünschen bin – naja, den Neuen Rahmen würde ich auch gerne so zelebriert sehen.
Oben habe ich zwar gesagt, dass ich Meister dieser Klasse nicht vergleiche, weil ich dazu gar nicht in der Lage sein kann, aber sie ist trotzdem mit der Vorstellung (Yi) weit mehr bei den Händen als zum Beispiel Chen Xiaowang heute. In alten Videos von ihm habe ich das aber auch bemerkt, es könnte also mit dem Alter (Praxis) zu tun haben. Ich stelle mir vor, je älter (Übungsalter), um so zentrierter und effektiver; die Bewegungen werden kleiner, bei Chen Xiaowang für mich sogar unsichtbar, aber ich erkenne, auch wenn nur über Videos vermittelt, dass da noch etwas ist.

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Kleiner Rahmen – Chen Taijiquan von Chen BaiXiang


Habe dazu interessante Spekulationen auf kampfkunst-board.info. Dazu ein Zitat aus den Kommentaren vom Benutzer Matieu:

Ab 0:54 in dem Video demonstriert Chen Boxian die Xiaojia Bewegungsfolge drei mal vorwärtsschreiten. Im Yang-Stil habe ich dieses Bild damals in der 85er-Form nach Yang Chengfu als Kniestreifen kennengelernt. Im Xiaojia ist das Kniestreifen allerdings die Position bei 0:44 -0:48, die dann bei 0:58 wieder auftaucht. Das Bild danach ist ganz eindeutig das Bild „die Pipa spielen“ aus dem Yang-Stil bei 1:07. Im Xiaojia Chen Taijiquan heißt dieses Bild „das Zurückholen“. Der Aufbau der Form läßt an diesen und weiteren Beispielen die direkte Verwandtschaft erkennen und ist für mich ein deutlicher Beweis dafür, dass Xiaojia Chen Taijiquan das Taijiquan ist, das Yang Luchan ursprünglich erlernt und praktiziert hat.

Und zum Video lese ich, dass neben Meisterin Chen Liqing auch Chen Peiju und Chen Guizhen in Deutschland bekannt sein sollen.

Und ich zitiere aus einer Antwort von bluemonkey an den taiwandeutschen 😉

… Wenn Chen Liqing die Form ausgegraben hat, was hat die (Form) dann mit Chen Zhaokui zu tun?
Chen Liquing stand doch in der Xiaojia-Tradition während Chen Zhaokui in der Dajia-Linie lernte also eher Laojia und Xinjia von seinem Vater Chen Fake?
Die „großen Vier“ sind doch alle Dajia?

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Schlussstellung – 收式 (shōu shì)

Zurück zu den Übersichtsseiten der Formen, in denen diese Figur vorkommt: 18 Bewegungen, 19 Bewegungen, 38 Bewegungen und Laojia Yi Lu

Schlussstellung (Closing Movement; shōu shì)
Im Video unten bei 8:29.

Jetzt haben wir uns ein sushi bzw. shōu shì verdient, dazu bringen wir das Gewicht auf das rechte Bein und stellen das linke schulterbreit und parallel zum rechten ab. Sinken – die Hände neben dem Körper sind etwas abgespreitzt und die Handflächen zeigen nach innen und oben. So öffnen die Arme zu beiden Seiten bis auf Schulterhöhe und werden dann gebeugt und vor den Körper gebracht, sodass sich beide Hände mit den Handflächen nach unten vor dem Hals (obere Brust) mit den Fingerspitzen fast berühren. Absenken der Energie ins mittlere Dantian, dann weiter sinken ins untere Dantian, die Hände sinken nach unten. Weiter sinken in die Beine, wobei die Arme neben den körper kommen und die Beine weiter gebeugt werden. Schließlich ein Steigen bis zum Bahui, das mit einem Strecken der Beine einhergeht. Gewicht rechts – den linken Fuß heran ziehen und die rechte Faust in die linke Hand vor dem Körper zum Gruß bringen.


Quellen und Links:
Old Frame, First Form
Old Framne Chen Family Taijiquan von Mark Chen
Shu Jian – Meister Paris Lainas
Großmeister Chen Shi Hong

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