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Ist Taijiquan tauglich zur Selbstverteidigung?

Mir kommen gerade wieder Zweifel auf, ob TCC heute überhaupt noch tauglich sein kann zur Selbstverteidigung (SV) und ob der Kampfkunstaspekt überhaupt noch eine Rolle spielt bei TCC (Tai Chi Chuan). Ich kenne inzwischen viele Kampfkünste (innere und äußere), einige Kampfsportarten und auch Selbstverteidigungssysteme. Dass letztere am besten geeignet sind zur SV, sagt schon die Bezeichnung. Dass die Eignung bei Kampfsportarten messbar ist, ist auch jedem bekannt, aber bei TCC gibt es heutzutage diesbezüglich nur noch Gerüchte aus vergangenen Zeiten. Mir ist der kämpferische Aspekt an sich zwar ohnehin nicht sehr wichtig im TCC, aber für jeden Aspekt der „inneren Kampfkünste“ ist der Glaube und der ur-eigentliche Sinn und Zweck insofern für mich wichtig, da die Gesamtheit ja aus den verschiedenen Aspekten besteht. Ob ich nun an Meridiane und Chi, Infinitesimalrechnungen und physikalische Membranen (westliche Wissenschaften) oder an irgend einen Gott/Göttin einer Religion glaube, oder meinetwegen, wie ich, einfach nur an das Leben und den Menschen, spielt wenig Rolle, wenn wir uns einig sind, dass Glaube Berge versetzen kann. Das kann er, in jeder Religion, in jeder Philosophie und auch bei dir und mir, denke ich.
Ich kann also sicher nicht am spirituellen Aspekt von TCC zweifeln, sonst könnte ich TCC nicht ausüben. Wer nicht an Gott glaubt, der betet nicht. Wer an keine willentlich (Yi) steuerbare Lebensenergie (Chi) glaubt, kann kein Taijiquan ausüben, das wäre absolut unmöglich. Wenn jemand ein Gebet spricht, wie ein Gedicht, oder eine Taijiquan-Form ausführt, wie einen Tanz oder eine Gymnastikübung, der glaubt nicht und weiß nicht, wovon ich spreche. In meinen Augen setzt er für sich und die Welt nur sinnlose Aktionen. Glauben kann ich aber, was ich will, ob mein Chi nun visualisiert wird oder nicht (ich tendiere zur Visualisierung für spirituelle Aspekte und zur Verbalisierung für ordinäre, rationale, redundanzfreie Aspekte), ob ich an Jesus, Mohammed, den Jadegott oder an dich glaube, sollte wenig Rolle spielen. Wenn ich glaube, erlebe ich, dass ich es nicht absolut weiß, dass es nicht nach Kriterien der aktuellen westlichen Wissenschaft beweisbar sein muss, aber, dass ich es wahrhaben möchte. Also sprach Helmeloh und wiederholt sich: „Ich kann also sicher nicht am spirituellen Aspekt von TCC zweifeln, sonst könnte ich TCC nicht ausüben“.
Am gesundheitlichen positiven Aspekt von TCC kann ich deshalb nicht zweifeln, weil ich genügend positive Erfahrung mit Taijiquan diesbezüglich machen durfte. Die Aufzählung würde schon Bände füllen und grenzt bei mir teilweise an Wunder.
Am Kampfkunst Aspekt endlich zweifle ich, denn diese Art von Kampfkunst muss sich seit Erfindung der Schusswaffen nicht mehr im ur-eigentlichen Sinne prüfen. In der unbewaffneten Selbstverteidigung in unserer Gesellschaft gibt es hervorragende effiziente Systeme, die im Vergleich zu TCC leicht zu erlernen sind. Ich brauche dazu gar kein Krav Maga, Eskrima oder Systema erwähnen, weil jeder TCC-Ausübende selbst genau weiß, dass er sich gegen eine mittelklasse Profiboxer oder Kickboxer keine Runde im Ring halten könnte. Wird er auf der Straße von einem solchen angegriffen, kann er sich genau so lange halten wie im Ring. Warum weiß es jeder TCC-Ausübender? Ich denke, weil er seine Fajinkünste, als Schattenboxer immer nur gegen den Schatten beweist und gegen imaginäre Gegener in die Luft schlägt.
Ich denke, dass ein hervorragender Taijiquanmeister (egal welcher Stil), zu einem hervorragenden, unglaublichen Fajin (innere Kraft abgeben [meist explosiv]) fähig ist, aber dass er sich die Hand oder/und den Arm brechen würde, wenn er statt in die Luft auf einen Gegenstand (Sandsack, Gegner) schlüge. Es fehlt die Abhärtung, die im Kampfsport, in äußeren Kampfkünsten und bei echten körperlichen Auseinandersetzungen einfach Grundlage sind. Ich halte es für sehr überheblich, wenn ein Kampfkünstler glaubt zuschlagen zu können, wenn er es noch nie versucht hat, außer gegen seinen Schatten und die Gasmoleküle der Luft. Ich gehe sogar soweit, das ich behaupte, ein Kampfkünstler, der noch nie gegen einen Gegenstand geschlagen hat, ist ein Esoteriker auf einem mystischen Erkenntnisweg, der mit SV für mich in keiner Weise in Verbindung gebracht werden kann.
Möglicherweise klingt das jetzt abwertend, oder geringschätzend, aber so ist es nicht gemeint, denn ich habe mit TCC begonnen, weil ich mich und meinen Körper beherrschen wollte. Weil mich der harmonische Ausgleich zwischen Yin und Yang faszinierte, weil mich der spirituelle und gesundheitliche Aspekt interessierte. Weil ich von der unglaublichen Ästhetik und Harmonie der Bewegungen – ganz besonders bei Vorführungen von Frauen – geradezu in einen unbeschreiblichen Bann gezogen werde, der mich an Gott erinnert, obwohl ich an keinen Gott glaube. Für mich hat TCC etwas göttliches an sich und es tut meiner Gesundheit psychisch und physisch sehr gut, aber selbstverteidigen würde ich mich damit nicht. Dazu legte ich mir eine Glock zu und lernte Krav Maga oder ähnliches.
Wenn TCC den Anspruch erheben will, auch als SV geeignet zu sein, dann müssen sie meiner Meinung nach ein Prüfungssystem einführen (das ist nicht nur Geschäftssache, sonder auch ein Beweis für gewisse Fähigkeiten; wie bei Zeugnissen an Schulen und UNIs) und an Wettkämpfen teilnehmen. Damit meine ich aber sicher nicht Wushu-Show-Events, wo „nur“ akrobatische Leistungen verlangt werden (das „nur“ ist hier ganz bestimmt nicht abwertend gemeint, denn ich bewundere diese unglaublichen Leistungen, die aber trotzdem nichts mit Kampfkunst zu tun haben), sicher auch kein Tuishou, sondern da müssten sie sich wenigstens in Sanda behaupten können. Als Kampfkünstler müssten sie den Kampfsportlern sogar weit überlegen sein, aber ich bekomme immer mehr den Eindruck, als scheuten sie einfach die Konfrontation. Dazu erfinden sie heute auch unendlich viele, meist spirituelle Gründe (manchmal auch soziale, kulturelle, … die zu Beginn von Taijiquan, meines Wissens nach, niemanden interessierten; einfach nicht existent waren).
Ich liebe Taijiquan und den Taoismus wirklich sehr und beides hat mir persönlich schon viel geholfen und gebracht, aber ich finde es widerwärtig, dekadent und verblödet, wenn sich jemand als Kampfkünstler ausgibt, der noch nie gekämpft hat, außer vielleicht mit einem Reifenplatzer des Wagens vom Papi, oder verbal mit einem Kellner, weil das Himbeereis nach Maracujia schmeckte.

Um eventuelle Missverständnisse von vornherein zu vermeiden, betone ich, dass ich sehr gerne Taijiquan betreibe und sogar den kämpferischen Aspekt etwas abgewinnen kann. Trotzdem halte ich die Verbindung mit SV für völlig entbehrlich, außer sie wird als Nebeneffekt auf einem sehr hohen Level betrachtet.
Ich hatte jetzt 53 Jahre lang keine SV nötig und möchte, dass es so bleibt. Allerdings glaube ich auch, dass ich sie vielleicht irgendwann nötig haben würde, wenn ich mich jahrelang darauf vorbereitete. Denn mir fällt dazu ein, dass schon ein Grieche der Antike meinte, dass Militär (stehende Heere) nur einen Zweck im Krieg erfüllen. Hat man ein gutes Militär, ist es naheliegend, dass man es einsetzt und ich vermute, dass es sich mit Fähigkeiten zur SV womöglich ähnlich verhält.

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