Die Krähe und die Blindschleiche

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Als ich während des Physiologie-Praktikums bei dem Beispiel „NLG“ Angaben zur Spannung vermißte, wurde mir drohend erklärt, daß in der Physiologie die Spannung keine Rolle spielt, sondern lediglich die Stromdichte von Bedeutung sei. Ähnlich erging es mir , als ich einen Vortragenden während seiner Vorlesung aufmerksam machte, daß das räumliche retinale Auflösungsvermögen ungleich dem Auflösungsvermögen des Auges ist. Meinen Argumenten setzte er entgegen, daß ich den Hörsaal verlassen soll, da ich seinen Vortrag störe. Dann setzte er fort: „Das Auflösungsvermögen des Auges ist also bestimmt durch den Abstand zweier Zapfen, wobei ein dritter unerregt dazwischen liegen muß.“

Leider ist es keine Seltenheit, das „Vorlesung“ zu wörtlich interpretiert wird und man bekommt kommentarlos Passagen aus beliebigen Lehrbüchern vorgelesen. Einige Kapitel werden dabei oft übersehen und andere stark gekürzt, damit sich auch noch private Erlebnisse aus dem letzten Urlaub anbringen lassen. Die Stories langweilten mich inzwischen dermaßen, daß ich mich bereits im Einschlafstadium befand, als ich ein Gekreische und Gekrächze vom offenen Fenster her vernahm. Ich ging ans Fenster, mancher mochte wohl glauben, um frische Luft zu schnappen, und sah, daß eine Krähe, welche in der Baumkrone des alten Eichenbaumes im Hof saß, mit einer Blindschleiche stritt. Diese war anscheinend durch das offene Fenster in den uns schräg gegenüber – eine Etage tiefer – liegenden Versuchsraum gelangt.

Krähe (K) stolz und prahlerisch zur Blindschleiche (B): Aus 30 m Höhe habe ich dich bereits gesehen, mein Auflösungsvermögen ist um ein Vielfaches besser als das deine. B welche vor dem Laserstrahler, der in eine Versuchsanordung eingebaut war lag antwortete: Ich kann dich zwar weder sehen noch mit einem Grubenorgan orten und doch bin ich mit meinem Los nicht unzufrieden. Du aber sprachst sehr gelehrt von einem Auflösungsvermögen, daß dir eigen. Was meinst du denn damit?

K: Ach du bist dumm wie du blind bist, nur als Imbiß scheinst du geeignet. Das maximale Auflösungsvermögen ist definiert als der minimale Abstand zweier Punkte, die gerade noch getrennt gesehen werden können. Angegeben wird es in Winkelminuten bzw. Winkelminuten-1 und abhängig ist es von der Receptorendichte. Bei mir, schätze ich, liegt es um die 0,10“. Der Abstand zweier Punkte von denen mir der optische Apparat je ein Haupt- und ein Nebenmaximum auf die Receptoren wirft, kann bei mir also wesentlich kleiner sein als bei dir.

B: Liebe Krähe, du sprichst beinahe wie ein Wr. Physiologe, doch sag‘ mir von welchen Punkten du beständig sprichst. Willst du behaupten, du sähest mathematische Punkte? Gut, andere sehen eben fliegende Mücken oder weiße Mäuse, aber wozu zwei Punkte, genügt denn nicht einer? Genügt es dir nicht, wenn du einen sogenannten Punkt auflösen kannst? Du kannst ja den Hintergrund als zweiten Punkt betrachten, wodurch du schon alleine an der Grenzlinie zwischen einem einzigen gerade noch sichtbaren Punkt und dem Hintergund unendlich viele Punkte aufzulösen hast. Gut, da du natürlich annimmst, du seiest der Mittelpunkt aller Dinge, verstehe ich, daß du, angenommen du hast 1 Mio. Zapfen und damit 1 Mio. retinale Bildpunkte zu einem Zeitpunkt, glaubst, daß der Abstand deiner Zapfen ausschlaggebend ist für die Größe der Dinge die du siehst. Doch glaube mir, dein optischer Apparat bestimmt, welche Punkte auf deiner Retina abgebildet werden und nur was abgebildet ist kann auch aufgelöst werden. Sage mir, wegen der verschiedenen Empfindlichkeit der Receptoren, mit welcher Wellenlänge die Sehdinge die du besser Auflösen kannst als ich bestrahlt werden? Nun ich will dich ja nicht überfordern und fragen, wie oft ein sogenannter Lichtstrahl während seines Weges von der Cornea bis zu den Receptoren, also der Membranscheibchen der äußeren Zapfenglieder der Retina Gelegenheit hat, gebeugt, reflektiert oder absorbiert zu werden? Die Position aller Atomkerne entlang seines Weges zu beschreiben, scheint mir eine ähnliche Aufgabe zu sein wie die Sterne am Nachthimmel zu zählen. Doch mach‘ nur und berichte, ich kann es nicht überprüfen – aber es ist unterhaltsam. Willst du mich aber ernsthaft davon überzeugen, daß dein Auflösungsvermögen besser ist als meines, so nenne mir den Durchmesser deiner Receptoren und den deiner Pupille?

K: Durchmesser meiner Receptoren? Auflösungsvermögen als l/n sin a? Was ist ein Punkt? Was ist ein Punkt? Krah, Krah.. Du verstehst mich falsch. Durch die neuronalen Mechanismen (Konvergenz und laterale Hemmung) wird bei optimaler Beleuchtung ein Sehschärfewert erreicht, welcher der therotischen Grenze nahe kommt. Die theoretische Grenze ist durch die Zapfengestalt und Anordnung bedingt und liegt z.B. beim Menschen bei ca. 0,5‘, was dem Durchmesser der Membranscheibchen der Zapfenaußenglieder entspricht.

B: Spar dir dein Gestammel, sondern sag‘ mir, was ich arme Blinde sähe, würde ich mir ein Mikroskop statt meines dioptischen Apparates einsetzen? Und was, würde ich es mit einem Ferngals tauschen? Bei immer gleichem Receptorabstand und Receptordurchmesser, versteht sich! Ändert sich das räumliche Auflösungsvermögen wenn ich meinen Bulbus verkürze oder verlängere oder nur der Visus? Wie wirkt es sich auf die Tiefenschärfe aus, daß du besser auflösen kannst?

B reizt K nun aufs äußerste und meint: Darf ich dir „Trautwein, Physik für Mediziner“ Seite 331 zitieren: „Die Abbildung eines Punktes liefert niemals exakt einen Bildpunkt, sondern stets ein ausgedehntes Beugungsscheibchen. Das Bild wird also infolge der Beugung unscharf (Beugungsunschärfe).“ Weiter unten: „Für die Abbildung im Auge ist die Pupille die beugende Öffnung. Man kann ausrechnen, daß die durch sie auf der Netzhaut entstehenden Beugungsscheibchen einen Durchmesser haben, der vergleichbar mit demn Abstand benachbarter Sehzellen ist. Die Detail-Auflösung des Auges würde also nicht weiter gesteigert, wenn die Sehzellen in der Nethaut dichter lägen.“

B betonte die letzten zwei Worte und da stürtzte sich die Krähe auch schon erbost vom Baum, um B zu fressen. Knapp vor ihrem Ziel aber wird sie getroffen und fällt tod zu Boden.

B: Sahest du nicht, daß ich unter einem CO2-Laser liege. Gut, der Strahl ist ohne Leitstrahl auch für dein Auge nicht sichtbar. Aber das Gerät und sein Zustand ist weithin auffallend. Arme Krähe, um deinen Schatten während des Anflugs in den Hof zu gewahren, brauchte ich nicht weit und gut zu sehen. Ich legte mich daher unter den schützenden Strahl, ahnend, daß ich dadurch einen eitlen, eingebildeten Feind ver liere, Zsst. Das ist also dein Ende, Rabenvieh!!! Warst im Leben stets ergeben und hast deinen Genossen auch kein Auge ausgehackt, doch als Opfer hättest du dir eben, keinen blinden Seher sollen wählen!!

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